Warum wollen wir so gerne alt werden? Nun, die erste und naheliegendste Antwort auf diese Frage ist: weil der Selbsterhaltungstrieb es von uns verlangt so lange wie möglich zu leben. Sogar Regenwürmer wollen lange leben, oder?
Nein, das stimmt so nicht, denn Regenwürmer und anderes Getier haben keineswegs die Absicht, „lange“ zu leben. Sie wollen einfach nur nicht sterben. Das ist Instinkt. Das teilen wir auch mit ihnen.

Mehr als nur nackter Überlebenstrieb

Ansonsten sind wir wohl die einzigen „Tiere“ auf diesem Planeten, die nicht nur nicht sterben wollen, sondern, wenn es denn schon unbedingt sein muss, dann bitte schön recht spät.

Wir haben eine Vorstellung davon, was Zukunft ist und finden es absolut erstrebenswert, unser Leben so lange wie es nur geht in diese noch kommende Zeit hinaus zu dehnen.
Warum nur, um Himmels Willen?
Und sind wir tatsächlich so verrückt nach Leben, dass wir sogar bereitwillig all die hässlichen, teilweise grausamen Begleiterscheinungen des Alterns, wovor wir uns heute schon fürchten, in Kauf nehmen?

Was uns wirklich motiviert

Sicher, es gibt eine lange Liste von Dingen, die wir glauben, noch erleben zu müssen.

Früher war dafür keine Zeit, oder das Geld hat nicht ausgereicht, also wird gerne das eine oder andere auf die lange Bank geschoben und mit dem Vermerk versehen: „Das werde ich machen, wenn ich alt bin.“ Aber werden wir das alles wirklich tun?
Oder hätten wir nicht schon längst den Spanisch-Kurs an der VHS belegt, wenn es nur wichtig genug gewesen wäre?
Wer sagt denn, dass die Motivation mit 70 größer sein wird, als sie mit 40 war?
Gut, das wäre also zweifelhaft, aber da gibt es noch einige andere Wünsche, die so gerne erwähnt werden, wenn es um die Frage geht, weshalb wir so gerne lange leben.

Es ist die Nachkommenschaft, es sind die Kinder und womöglich auch noch die Enkelkinder, denen wir so gerne zuschauen möchten, wie sie sind, wenn sie erwachsen sind, wie sie werden, wenn sie selbst Mütter oder Väter sind.

Aber ist das nicht sehr egoistisch? Es ist ja nicht nur so, das wir das Glück haben unseren Kindern und Kindeskindern zuschauen zu dürfen, während sie ihr junges Leben gestalten. Es ist ja auch andersherum; sie schauen uns ja auch zu, wollen wir ihnen wirklich zumuten, mit uns erleben zu müssen, wie uns das Leben Stück für Stück verlässt?

Die Gabe des Alters

Es muss etwas geben, das trotz der zu erwartenden Gelenkschmerzen und anderen Widrigkeiten, die uns vielleicht sogar einiges an Lebensqualität rauben werden, so reizvoll ist, dass wir bereits mit 40 alles dran setzen, gesund zu leben, uns gesund zu ernähren und fit zu halten, um nicht frühzeitig (zum Beispiel schon mit 60) das irdische Leben verlassen zu müssen.
Und ja, es gibt da tatsächlich etwas. Etwas das man nur erlangen kann, wenn man lange genug lebt:
Weisheit.
Ich weiß, das Wort klingt ein wenig hochtrabend und man ist sofort geneigt, an den Weltweisen Kant zu denken, aber es geht keineswegs darum, dass wir mit 70 vielleicht noch philosophische Schriften verfassen werden, die die Menschheit für die folgenden Jahrhunderte mit all dem versorgen, was man über das „gute Leben“ wissen sollte.
Nein, das wäre zu viel und wenn man solche Höchstleistungen von sich erwartet, dann ist der, der einfach nur golfen will, sei es für drei Jahrzehnte, ganz sicher besser dran.
Unter Weisheit verstehe ich eher das, was übrig bliebe, wenn wir all unsere Erfahrungen und all unser Wissen wie eine Apfelsine ausquetschen könnten; die Essenz, in dem alles Wertvolle enthalten ist und der Geschmack nicht mehr durch lästiges Fruchtfleisch und Kerne gestört wird.
Das ist eine Aufgabe, die ich erstrebenswert finde, und wie es mit den meisten Aufgaben ist, besteht auch hierbei nicht die Gefahr, jemals fertig zu werden.

Was wir vielleicht weitergeben dürfen

Jetzt mag man vielleicht insgeheim denken, wozu Weisheit? Wozu sollte man sich all die Mühe machen, schmerzhafte Bilanz zu ziehen, abzurechnen, das Wichtige von all den Banalitäten zu trennen, die sich im Laufe der vielen Lebensjahre im Gedächtnis wie lästige Staubflocken auf das tatsächlich Wertvolle niedergelassen haben? Nur so? Etwa zum Selbstzweck?

Nein, ganz sicher nicht, denn das wäre in der Tat sinnlos und eine grandiose Verschwendung einer Chance, die niemals wiederkehrt.
Zum Mitteilen. Zum Weitergeben. Und um Spuren zu hinterlassen.

Wir Alten haben im Laufe der vielen Jahre Geschichte live miterlebt. Wir haben Moden und Hypes kommen und wieder gehen gesehen. Wir haben den Wandel der Zeiten hautnah und mehrfach mit einiger Heftigkeit selbst erlebt.

Kein Patentrezept

Mit ein wenig Nachdenken können wir uns einen Überblick verschaffen, der für jüngere Menschen durchaus wertvoll sein kann.
Das ist unser Reichtum, den wir den Jungen schenken können. Wir dürfen unsere Geschichten aber nicht als endgültige Antworten verpacken und als Sammlung der besten Patentrezepte gebrauchsfertig überreichen. Wir müssen die, die nach uns kommen ermutigen, immer wieder neue Fragen zu stellen. Und wir müssen ihnen vermitteln, dass es sich lohnt weiterhin nach Antworten zu suchen.

Wir können nichts besser wissen, nur weil wir alt sind. Und unsere vermeintliche Weisheit können wir nur anbieten.
So wie eine Sommerwiese ihre Blütenpracht jedem zur Verfügung zu stellt, sollten wir auch den Jungen das Recht lassen, das zu pflücken, was sie brauchen. Für die Aussicht auf ein wenig Weisheit bin ich gerne bereit, die schmerzenden Gelenke und all die anderen Zipperlein als lästige, aber dennoch nicht lebensbestimmende Nebenwirkungen des „alt seins“, in Kauf zu nehmen.

Lebensjahre einfach nur zu sammeln wertet das Leben auf das Niveau von Bierdeckeln und sonstigem Kram herab. Unser Leben, unsere individuelle Existenz muss einen Sinn haben, egal wie viele Jahre schon wir auf diesem Planeten weilen.

Lebenszeit ist das Kostbarste, was ein Mensch haben kann. Deshalb sollten wir mit jedem Augenblick so umgehen, als wäre es ein unfassbar teures Parfüm, denn die Zeit hat die Eigenschaft, ebenso schnell zu verfliegen wie der süße Duft von Maiglöckchen.
Die Chance, ein wenig Weisheit zu erlangen, haben wir nur im Alter und wir sollten sie gefälligst nutzen, anstatt unsere Zeit damit zu verschwenden, um jeden Preis jung und gesund bleiben zu wollen.

Das Einzige, was eines Tages von uns allen bleibt, ist Erinnerung.
Daher sollten wir rechtzeitig damit beginnen, dafür zu sorgen, dass man sich gerne und lange an uns erinnert. Wissen zu sammeln, ein Leben lang zu lernen, neugierig und offen zu bleiben, um dann das, was tatsächlich wertvoll ist, liebevoll und geduldig weiter zu geben – das ist der Beitrag, den alte Menschen leisten können.

Gäste im Zukunftshaus

Und wenn wir selbst vielleicht eines Tages nicht mehr viel Zukunft in unserem Leben erwarten können, dann müssen wir akzeptieren, dass unsere Kinder und Enkelkinder die einzigen Experten für IHRE Zukunft sind.
Wir können sie begleiten, ihnen Mut machen, über sie staunen und akzeptieren, wenn wir sie irgendwann nicht mehr verstehen können. Wir können ihnen zeigen, wie großartig ein erfülltes Leben bis zum letzten Atemzug sein kann und wir können ihnen erzählen, wie es uns gelungen ist Erfüllung zu finden.
Das ist der Obulus, den wir für den langen Aufenthalt in diesem Leben mindestens aufbringen müssen.

Auf keinen Fall dürfen wir die Rechnung dafür, dass wir so alt werden, wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, den Jungen hinterlassen!
Wir dürfen sie nicht blockieren, wir dürfen nicht versuchen die Welt anzuhalten, oder gar die Zeit zurückdrehen zu wollen. Wenn wir uns davor fürchten Veränderungen nicht mehr bewältigen zu können, dann dürfen nicht verlangen, dass die Erde sich deshalb langsamer dreht!

Wir Alten sind Gäste im Zukunftshaus der Jungen und sollten ihnen daher die Freiheit lassen, sich einzurichten, wie es ihnen gefällt!
Wenn wir das nicht schaffen, dann sind wir tatsächlich „nur alt“ und kein bisschen weise.