Heute ist Ostersonntag und ich habe wieder einen starken Drang zu schreiben, was den Einen oder Anderen vielleicht verwundern mag, denn ich gelte im Allgemeinen nicht als besonders religiös.

Und tatsächlich bin ich das auch nicht, denn so lange es nur Glaubenssysteme gibt, die behaupten, die Wahrheit, die einzige Wahrheit zu kennen und zu verkünden, solange die großen Religionsgemeinschaften zwar für alle offen sind, die sich zu ihnen bekennen, aber alle anderen ausgrenzen, werde ich bei meiner Art zu glauben bleiben.
Aber wie sieht eigentlich mein Glaube aus? Wie heißt denn mein Gott oder sind es gar viele? Darauf kann und will ich nicht antworten, denn genau an diesem Punkt halte ich es gerne mit Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man schweigen.“ Ich glaube, ich glaube sogar sehr tief an etwas, was nicht beschreibbar, ja vielleicht nicht einmal denkbar ist.

Mensch sein – einfach so

Mensch seinNichtsdestotrotz gibt es in allen großen Religionen sehr viel Weisheit, Geschichten und Rituale, die uns in den tiefsten Tiefen unserer Existenz ansprechen und berühren können, wenn wir es zulassen.
Das Osterfest ist meiner Ansicht nach eines der wertvollsten Metaphern, denn es zeigt uns innerhalb von wenigen Tagen, ja sogar Stunden die gesamte Bandbreite von Gefühlen, die wir als Menschen empfinden können, ja Empfindungen, die uns sogar tatsächlich erst zu Menschen machen.
Die Kreuzigung als Symbol der Grausamkeit, zu der wir fähig sind, die Trauer über den Tod Jesu‘, Verzweiflung, Reue und Vergebung, werden abgelöst durch die unendliche Begeisterung und Freude über die Auferstehung.

Wenn man diese Bandbreite jedoch nach den Maßstäben betrachtet, die wir heute so gerne anlegen, dann wird man sehr schnell feststellen, dass es eigentlich die Kurzbeschreibung einer „Bipolaren Störung“ ist; wenn jemand, dessen Stimmungslage von „himmelhochjauchzend“ bis „zu Tode betrübt“ reicht, bei Doktor google nachfragt, der wird sofort all seine Befürchtungen bestätigt wissen; aha, man leidet also unter einer manisch-depressiven Erkrankung, mit Betonung auf „Erkrankung“.

Um Missverständnissen gleich vorzubeugen, möchte ich betonen, dass mir keineswegs daran gelegen ist, die Schwere dieser, oder auch anderer psychischen Erkrankungen herab zu spielen, denn dass wäre ebenso unrecht, wie Krebs zu bagatellisieren.

Es gibt bedauerlicherweise sehr viele Menschen, bei denen man keinesfalls von einer „vorübergehenden Verstimmung“, sondern zurecht von einer schweren Krankheit ausgehen muss und diesen Menschen muss dringend geholfen werden. Dafür haben wir unzählige exzellent ausgebildete Psychologen und Therapeuten, die mit viel Empathie, Engagement und Fachwissen dafür sorgen, dass die Symptome zumindest erträglich und die Patienten keine Gefahr für sich, oder für andere werden können.

Mit Medikamenten können wir tief in die Gehirnchemie eingreifen und Menschen, die vor einigen Jahren vielleicht noch ihr ganzes Leben in einer geschlossenen Anstalt verbracht hätten, zu einem Leben verhelfen, das sie weitgehend unabhängig führen können. Wir haben Methoden, die uns nach Schlaganfällen erlauben, geschädigte Hirnareale neu zu trainieren, wir können Tumore entfernen und noch vieles mehr an Heilmöglichkeiten, die tatsächlich beinahe an Wunder grenzen und vor noch nicht all zu lange Zeit kaum denkbar waren.
Für all das sind wir mit Sicherheit alle sehr dankbar und die Aussicht auf ein langes, gesundes Leben, ist tatsächlich ein Grund zur großen Freude.
Und trotzdem bin sehr besorgt, denn es gibt einen Trend, den ich nicht nur als gefährlich, sondern vernichtend bezeichnen möchte: der Drang zu Selbstoptimierung.

Im falschen Leben

Wir sind dabei uns zu stereotypen Einheitsmodellen zu entwickeln, und uns damit bis zur völligen Unkenntlichkeit zu „verbessern“. Unsere Vorstellungen von „gesund“ und „krank“ versetzen uns bei noch so geringen Abweichungen in Unsicherheit.
Und das betrifft leider nicht nur die BMI, Cholesterinwerte und Apps zur Kontrolle von Blutdruck, Schokoladenverzehr, oder Stuhlgang. Wir benutzen sogar Apps, die zählen können, wie oft wir am Tag „ich liebe Dich“ zu unserem Mann, oder unserer Frau sagen und viele ähnliche, bei denen wir zur gegebener Zeit nachfragen können, ob wir uns im Rahmen der „gesunden Norm“, verhalten, oder sofort etwas „optimieren“ müssen, sonst……ja was eigentlich?

Dieser völlig überdrehte und zwanghafte Kontrollwahn mag vielleicht den Bedürfnissen von ängstlichen Kleingeistern entsprechen, wobei ich sogar daran zweifeln mag, aber ein kreativer Geist, wie zum Beispiel der von Goethe, würde in solch einer Enge gar nicht erst entstehen, geschweige denn überleben können.

Der Universalgelehrte, der von aller Welt verehrt und bewundert wird, dessen zeitlose Weisheit auf diesem ganzen Planeten, in allen Sprachen heute noch unzähligen Menschen Trost spendet, manch einem die Augen öffnet und etwas Neues erkennen lässt, eben genau dieser Goethe würde nämlich im 21. Jahrhundert mit der Diagnose „manisch depressiv“ leben müssen, also „krank“ sein und wer krank ist, der muss auf dem schnellsten Weg wieder gesunden und dafür hätten wir ja diverse Medikamente zur Auswahl. Vermutlich hätte man ihn sogar schon in der Kindheit „behandelt“, denn er würde ganz sicher keiner Norm entsprechen.

Mensch seinSicher, die Anfälle von „Lebensekel“ wie er selbst die dunklen Phasen beschreibt, blieben ihm erspart.
Aber wir? Wie könnten wir ohne Goethe oder sogar ohne Kunst überleben?
Haben wir wirklich vergessen, dass unsere gesamte Kultur, dass all die Technik aus Gehirnen entsprungen ist, die so ganz und gar nicht in irgendein Schema passen wollten?

Gerade unsere Fähigkeit Tiefen und Höhen zu erleben, die Vielfalt unserer Gefühle und Empfindungen, die Unterschiede unserer Weltanschauungen und Persönlichkeiten, haben uns überhaupt erst ermöglicht in einer Umwelt zu überleben, die für uns – zerbrechlich und nackt, wie wir einst gewesen sind – eigentlich in kürzester Zeit hätte vernichten müssen.

Wie können wir es wagen, das Großartigste in uns, den Erfinder und Entdecker, den Künstler und Visonär weg zu optimieren in dem wir uns freiwillig alles, was nicht der Norm entspricht verbieten?

Und wie können wir es wagen zu riskieren, dass wir der Nachwelt keine Kunst und keine neue Technik hinterlassen, nur weil wir zu feige und zu engstirnig waren, das „Ausser-Gewöhnliche“ zu zulassen?

Das perfekte Wesen

DAS macht mir Angst! Und diese Angst empfinde ich als wesentlich bedrückender, als die vor Krieg, oder anderer Zerstörung, denn wenn wir unsere Kreativität gegen die Illusion von Sicherheit eintauschen, dann werden wir eines Tages vielleicht wirklich zu versteinerten – wenn auch sehr hübschen – Wesen erstarren, die in einem Universum, das sich permanent verändert und bewegt, die uns ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert, keine Existenzberechtigung haben. Die Zeit könnte uns einfach von der Bühne fegen, als wären wir nie da gewesen.

Gut, könnte man jetzt sagen, das ist Alarmismus, das dauert sicherlich noch ein Weilchen, also braucht es mich heute nicht zu interessieren.
Dann hilft vielleicht ein kleiner Blick auf die Geschichte und wir müssen gar nicht sehr weit zurück schauen, um uns selbst zu sehen, wie wir hochgradig optimiert und im Gleichschritt, alle die gleichen Lieder auf den Lippen, die gleichen Fahnen schwenkend vor Tribünen aufmarschieren, um dort der „Elite“ (also den Besten unter den Verbesserten), zu huldigen.

Vor ihren toten Augen und grauen Maschinengesichtern präsentierten wir uns in Reih‘ und Glied, voller Stolz und Größenwahn, als das, was wir nicht sind und hoffentlich niemals sein werden: PERFEKT!

Jetzt, nach dem wir endlich (zumindest in Europa) all die grausamen Diktatoren und Tyrannen davon gejagt haben, jetzt geben wir unsere Freiheit und unser Recht auf Individualität freiwillig auf und verordnen uns selbst eine Art emotionale Askese?

Wieso tauschen wir so bereitwillig all das, was uns so einzigartig macht gegen etwas ein, das so unlebendig, so blutleer und langweilig ist, und allenfalls zu Ken und Barbie passt, nicht aber zu dem Wesen, das wir einmal waren und teilweise immer noch sind?

Also lasst uns bitte weiter Fehler machen, lasst uns voller Makel sein, lasst uns weinen und lachen, kindisch und ernst sein, tanzen und dabei hinfallen – so sind wir und so sind wir gut, alles andere wäre eine billige Kopie von einem einst sehr vielversprechenden Original!

Zum Glück haben wir ja unseren Goethe und zum Glück haben wir alle genug Phantasie, damit wir uns vorstellen können, dass eine perfekte Welt, die von perfekten Wesen bevölkert wird, völlig unvorstellbar ist.

In diesem Sinne wünsche ich gerne und von Herzen: Frohe Ostern!

Osterspaziergang

OsterspaziergangVom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden, belebenden Blick.
Im Tale grünet Hoffnungsglück.
Der alte Winter in seiner Schwäche
zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
ohnmächtige Schauer körnigen Eises
in Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weisses.
Überall regt sich Bildung und Streben,
alles will sie mit Farbe beleben.
Doch an Blumen fehlts im Revier.
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.

Kehre dich um, von diesen Höhen
nach der Stadt zurückzusehen!
Aus dem hohlen, finstern Tor
dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden.
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus der Strassen quetschender Enge,
aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind sie alle ans Licht gebracht.

Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge
durch die Gärten und Felder zerschlägt,
wie der Fluss in Breit und Länge
so manchen lustigen Nachen bewegt,
und, bis zum Sinken überladen,
entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges ferner Pfaden
blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel.
Hier ist des Volkes wahrer Himmel.
Zufrieden jauchzet gross und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!

Johann Wolfgang von Goethe – aus: Faust 1